Interview mit Dr. Angelika Thöne-Otto, Leitende Neuropsychologin an der Tagesklinik für kognitive Neurologie am Universitätsklinikum Leipzig
BAG Selbsthilfe: Frau Dr. Thöne-Otto, Sie sind leitende Neuropsychologin am Universitätsklinikum Leipzig. Können Sie uns bitte kurz das Fach „Neuropsychologie“ vorstellen.
Dr. Angelika Thöne-Otto: Die Neuropsychologie beschäftigt sich mit Erkrankungen oder Funktionsstörungen des Gehirns und ihren Auswirkungen auf die geistige Leistungsfähigkeit einerseits – also zum Beispiel Konzentration oder Gedächtnis – und andererseits Auswirkungen der Erkrankungen auf die Stimmung und das Verhalten. Wir sind eine Tagesklinik für Neurologische Patienten an der Universität und haben uns seit der COVID-Pandemie bemüht, unsere Erfahrungen aus der Behandlung neurologischer Patienten auf die Therapie von Menschen mit neuropsychologische Einschränkungen nach COVID zu übertragen.
Unsere Tagesklinik für kognitive Neurologie wurde in Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für Kognition und Neurowissenschaften gegründet. Neben der klinischen Forschung haben wir daher immer auch die Grundlagenforschung im Hintergrund.
Mit welchen Beschwerden kommen die Patient*innen zu Ihnen und wie können sich Betroffene das tagesklinische Konzept vorstellen?
Wir arbeiten in einem interdisziplinären Team und beschäftigen neben Neuropsychologen und Ärzten auch Ergotherapeuten, Physiotherapeuten und Sprachtherapeuten. Zusätzlich arbeiten bei uns Sozialtherapeutinnen und zwei Orthoptistinnen, die sich um Wahrnehmungsstörungen kümmern. Das Gros unserer Patienten hat eine neurologische Erkrankung wie einen Schlaganfall oder ein Schädelhirntrauma erlitten. Sie sind meist im berufstätigen Alter und die Wiedereingliederung in den Beruf ist ein ganz wichtiger Schwerpunkt unserer Therapie. Dafür ist das tagesklinische Konzept sehr hilfreich, weil man Teile der Therapie am Arbeitsplatz machen kann, um dann die Therapie in der Klinik noch spezifischer auf die Bedürfnisse des Alltags ausrichten zu können.
Seit einiger Zeit haben wir ein eigenes Programm für Menschen mit neuropsychologischen Beschwerden nach COVID-Infektion entwickelt. Im Zentrum der Beschwerden steht oft eine reduzierte Belastbarkeit und Konzentrations- und Gedächtnisstörungen. Auch unsere Post COVID-Patienten kommen in der Regel aus der Berufstätigkeit. Die Belastbarkeit muss zumindest ausreichen, um einen tagesklinischen Therapietag von 3-4 Therapiestunden zu bewältigen. Dabei nehmen wir die Patienten in einer Gruppe von drei bis vier Personen auf, die ein festes Programm gemeinsam durchlaufen. Unserer Erfahrung nach ist das ein ganz wichtiger Bestandteil der Therapie, weil sich die Patienten gegenseitig gut kennenlernen. Bei den Themen, an denen wir arbeiten, wie etwa die Diskrepanz zwischen den eigenen Wünschen an Leistungsfähigkeit und das Erleben der Leistungsgrenzen, sind sie sich gegenseitig fast die besten Therapeuten.
Wenn Post-COVID-Patienten zu uns kommen, machen wir zunächst eine Diagnostik in der Neuropsychologie. Wir schauen uns die Konzentration und das Gedächtnis, die Stimmung und die Fatigue (Hinweis: darunter ist eine krankhafte, körperliche Schwäche zu verstehen) an. In der Physiotherapie wiederum geht es um körperliche Belastbarkeit und Kondition und es findet eine ärztliche Untersuchung statt.
In der Therapie ist das Hauptziel, die Ansatzpunkte zu finden, um Einfluss auf diese Erkrankung zu nehmen. Daher erarbeiten wir mit den Patienten zum Beispiel Einflussfaktoren auf das Krankheitsbild: was entzieht mir Energie, und woraus kann ich Energie schöpfen? In welchen Situationen treten Gedächtnisstörungen auf? Gibt es auch Situationen, in denen ich mich gut konzentrieren kann?
Warum ist es aus ihrer Sicht wichtig, Long COVID interdisziplinär zu behandelt?
Die Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen in der Medizin ist für diese Krankheit sehr wichtig, weil sie sich mit so vielen unterschiedlichen Beschwerden äußern kann. Im Moment wissen wir noch nicht wirklich, wie die ideale Therapie aussieht. Man wird verschiedene Ansätze versuchen müssen, medikamentöser Art oder auch über Ernährungsveränderungen. Und wie viel Bewegung tut dem Patienten gut? Gerade die Bewegungstherapie ist so ein schwieriges Thema. Manche Menschen mit Post-exertioneller Malaise (Hinweis: Belastungsintoleranz) machen die Erfahrung, dass es ihnen nach der Reha schlechter geht als vorher, weil die körperliche Aktivität zu viel war. Die richtige Dosis zu finden, ist sehr wichtig. Bei Menschen die keine solche Belastungsintoleranz haben, ist es aber auch ungünstig, wenn sie sich zu sehr schonen und sich gar nichts mehr zutrauen. Wir versuchen den schmalen Grat zwischen Inaktivität und Überforderung zu finden.
Wie schätzen Sie die kognitiven Beeinträchtigungen durch Long COVID im Vergleich zu Einbußen durch andere Erkrankungen wie etwa andere Virusinfektionen oder nach einem Schlaganfall ein?
Ein ganz wichtiger Unterschied ist, dass sowohl für die Patienten selbst, als auch für die Behandelnden und für das soziale Umfeld Post COVID so schwer fassbar ist. Wenn ich einen Schlaganfall gehabt habe oder eine Diagnose für Multiple Sklerose, dann habe ich eine neurologische Erkrankung und niemand wird das infrage stellen. Bei Post COVID war aber von Anfang an die Frage: „Ist es nicht eine Erkrankung, die durch die sozialen Medien gemacht wurde?“ oder „Haben die nicht eigentlich eine Depression?“ Viele Menschen merken gar nicht, dass sie COVID haben oder sie sind ein paar Tage krank und dann wieder gesund. Warum gibt es einige, bei denen die gleiche Erkrankung so lange dauert oder manche, die akut gar nicht schwer krank sind, und die Beschwerden erst nach einigen Wochen auftreten?
Letztendlich geht es jedoch den Post COVID-Patienten vergleichbar wie den Schlaganfall-Patienten: das Gehirn kann seine Aufgabe nicht mehr richtig erfüllen, auch wenn noch nicht gut verstanden ist, warum. Einerseits wollen wir den Patienten Hoffnung machen, dass es wieder besser werden kann. Gleichzeitig ist aber davon auszugehen, dass das Virus wahrscheinlich eine Veränderung im Gehirn bewirkt hat, die zum Beispiel dazu führt, dass man sich nicht gut konzentrieren kann. Das ist schwer fassbar, denn in einer bildgebenden Untersuchung des Gehirns z.B. mit einem MRT (Hinweis: Magnetresonanztomografie) sieht das Gehirn meist gesund aus, man findet keine Auffälligkeiten. Wenn man allerdings in Studien Patientengruppen mit und ohne Post COVID-Beschwerden mit einander vergleicht, finden manche Studien durchaus Veränderungen im Gehirn.
Es ist also noch unklar, ob die kognitiven Beeinträchtigungen irreversibel sind?
Genau. Aber auch bei einem Schlaganfall und selbst bei einer Multiplen Sklerose, die eine fortschreitende Erkrankung ist, wissen wir, dass wir durch Training die Funktionen verbessern können und vor allen Dingen, dass wir mit Kompensationsstrategien die Einschränkungen im Alltag reduzieren können. Das ist letztendlich das Methodeninventar, das wir auf diese Patienten übertragen. Patienten, die leicht ablenkbar sind, üben etwa, sich zu fokussieren, ablenkende Gedanken ziehen zu lassen und sich dann wieder zu konzentrieren. Gleichzeitig lernen sie besser zu verstehen, unter welchen Bedingungen die Ablenkbarkeit besonders auftritt und wie sie ihr Umfeld so gestalten können, dass sie weniger abgelenkt sind. Viele Patienten mit Post COVID erleben es zum Beispiel als extrem anstrengend, auf ein Familienfest zu gehen, wo mehrere Personen durcheinander sprechen. Dann suchen wir nach Ideen, wie sie teilnehmen können, ohne sich zu überfordern. Können sie sich an den Rand setzen, oder sich jemanden suchen, mit dem sie vor der Tür oder in einem separaten Raum sprechen. Bleiben sie vielleicht nicht den ganzen Abend, aber doch für eine Stunde. Die Gruppe ist dabei oft hilfreich, um die Betroffenen zu ermutigen, sich zu trauen, die Situation aktiv zu gestalten und nicht nur auszuhalten.
Sie sprachen die Diagnostik an, einerseits über Messbares im Blut oder in der Bildgebung, anderseits durch Gedächtnistests. Es wird ja oft fälschlicherweise behauptet: Was nicht messbar ist, gibt es auch nicht.
Richtig. Dass unsere medizinischen Untersuchungsmethoden nicht fein genug sind, um die Krankheit abzubilden, heißt nicht, dass sie nicht existiert! Zunächst machen wir immer eine ausführliche Anamnese darüber, welche Schwierigkeiten im Alltag bestehen. Wir geben dem Patienten verschiedene Selbsteinschätzungsfragebögen, wo sie etwa ihre Stimmung und die Belastbarkeitsminderung einschätzen. Sind diese eher körperlich oder geistig und wie machen sie sich bemerkbar? Ein wichtiger Teil der Diagnostik ist es herauszufinden, ob die Schwierigkeiten im Alltag an der Konzentration oder der Belastbarkeit liegen – oder im Kern eine Gedächtnisstörung vorliegt? Und je nachdem, braucht es andere Kompensationsstrategien oder auch andere Übungen. Manche Patienten erzählen etwa, dass sie schnell vergessen, wenn der Partner etwas mit ihnen vereinbart hat. Am nächsten Tag sind sie dann überrascht und der Partner sagt „Das haben wir doch gestern besprochen!“.
Mit unserer Diagnostik können wir dann besser verstehen, ob sie schon in dem ersten Gespräch vielleicht so erschöpft waren, dass sie gar nicht mehr richtig zuhören konnten und die Information nie im Gedächtnis angekommen ist. Oder ob sie durchaus anfänglich die Information gut aufgenommen und sowohl im Gedächtnis, als auch vielleicht im Kalender gespeichert haben. Wenn sie sich dann am nächsten Tag trotzdem nicht mehr erinnern, spricht das dafür, dass das es tatsächlich ein Gedächtnisproblem gibt. Und man kann sich vorstellen, dass unterschiedliche Strategien erforderlich sind, je nachdem, ob ich die Informationsaufnahme verbessern oder die fehlende langfristige Speicherung im Gedächtnis kompensieren will.
Was unterscheidet die Neuropsychologie von anderen Methoden? Und was genau hilft Long COVID-Patienten?
Ich glaube, was für die Patienten immer das Wichtigste ist, ist, dass man sie in ihren Beschwerden ernst nimmt. Die Neuropsychologie ist ja kein medizinisches, sondern ein psychologisches Fach. Wir gehen daher mit psychologischen Methoden an die Erkrankung heran. Das tun wir beispielsweise, indem wir auf die Fatigue eingehen und versuchen, Einflussfaktoren zu finden, z.B. woran merkt die Person, dass sie eine Pause machen sollte, welche Art von Pause ist hilfreich? Wir üben, sich die Pause auch dann zu nehmen, wenn es in einer sozialen Situation nicht vorgesehen ist. Und wenn es für die Patienten so schwierig ist, diese Pausen selbst zu setzen, zu schauen, dass man sich zum Beispiel nach 20 Minuten einen Wecker stellt. Vielen Patienten fällt es sehr schwer, eine Aufgabe zu unterbrechen, wenn sie noch nicht fertig ist, auch wenn sie merken, dass sie eigentlich nicht mehr können. Da kann ein Wecker sehr hilfreich sein.
Ich würde aber gerne noch einmal auf die psychische Dimension zu sprechen kommen: wir wissen, dass Patienten, die schon vor ihrer COVID-Infektion depressiv waren, auch ein erhöhtes Risiko haben, an Post COVID zu erkranken. Und eine Erkrankung zu erleben, die oft als so unvorhersehbar und unkontrollierbar erlebt wird, kann durchaus auch depressiv machen. Wir glauben trotzdem nicht, dass Post COVID eine primär psychosomatische Erkrankung ist. Wobei diese Trennung zwischen psychisch und körperlich zwar immer noch in unserem Gesundheitssystem existiert, aber nicht mehr unserem wissenschaftlichen Standard entspricht. Wir wissen gleichzeitig, dass das Immunsystem auf alle möglichen psychischen Faktoren und sozialen Stressoren reagiert. Und hier liegt unsere Chance: Wir können über psychologische Methoden den Patienten helfen, mit dieser Erkrankung besser umzugehen. Darauf zielt das biopsychosoziale Modell!
Letztendlich hoffen wir zwar, dass irgendwann Medikamente entwickelt werden, die den Patienten Erleichterung schaffen. Solange es die aber nicht gibt, arbeiten wir symptomorientiert und unterstützen die Patienten im Umgang mit ihrer Erkrankung.
Das ist eine sehr nachvollziehbare Erklärung. Aber der medizinische und gesellschaftliche Diskurs über den Einfluss der Psyche bei Long COVID hält an.
Ich glaube, es ist ein großes Problem, wenn die Menschen hören, dass Long COVID eine psychische Erkrankung ist. Dann schlussfolgern sie, dass es keine „richtige“ Erkrankung ist. Sie gehen dann nicht zum Arzt, weil sie denken, das geht schon wieder weg. Dabei sage ich bewusst, dass Long-COVID keine primär psychosomatische Erkrankung ist. Es gibt aber wichtige psychische Einflussfaktoren. Daher ist der erste Schritt, anzuerkennen, dass auch psychische Erkrankungen ernsthafte Erkrankungen sind, die Auswirkungen auf das Gehirn, auf den Darm, die Lunge, die Haut etc. haben!
Es gibt ein spannendes medizinisches Fach, das sich Psycho-Neuro-Immunologie nennt. Daher wissen wir, dass das, was an Erfahrungen auf das Gehirn wirkt, einen großen Einfluss auf das Immunsystem und umgekehrt das Immunsystem einen riesigen Einfluss auf das Gehirn hat. Es wäre total künstlich, das auseinander nehmen zu wollen.
Wir kennen auch andere entzündliche Erkrankungen des Gehirns, die mit neuropsychiatrischen Veränderungen einhergehen. Das heißt, wenn die Patienten in der akuten COVID-Phase plötzlich oder im Verlauf depressiv oder ängstlich sind, kann das einerseits etwas mit Veränderungen im Gehirn zu tun haben und andererseits mit den Erfahrungen, die sie mit ihrer Erkrankung machen.
Welche Erfolge konnten Sie bei Ihren Patient*innen bisher miterleben?
In Bezug auf die selbst eingeschätzte Fatigue haben wir bislang keinen wesentlichen Effekt, was wir unter anderem darauf zurückführen, dass für Patienten, die lange erkrankt sind, allein die tagesklinische Behandlung schon eine große Herausforderung ist.
Uns geht es eher darum, aufzuklären und zu vermitteln, wie zum Beispiel Pacing konkret umgesetzt werden kann. Da erwarten wir nicht unmittelbar positive Effekte, wir sehen aber eine Verbesserung der Stimmung, was wir auch darauf zurückführen, dass die Menschen für sich eine Perspektive entwickeln. Es gibt einen Effekt, den Psychologen „Selbstwirksamkeit“ nennen. Also das Gefühl, der Erkrankung nicht ausgeliefert zu sein, sondern Einfluss nehmen zu können. Das ist vielleicht das Wichtigste überhaupt.
Auf welche Weise vermitteln Sie dies?
Der Austausch in der Gruppe spielt dabei eine wichtige Rolle. Eine andere Methode, die wir einsetzen, ist, dass wir den Patienten Selbstbeobachtungsbögen mitgeben, wo sie über ein paar Tage notieren sollen, was sie machen und welche Auswirkungen das auf die geistige und körperliche Belastung und auf die Stimmung hat. Und dann zu schauen, was wie miteinander zusammenhängt. Wir sagen immer, wir möchten, dass die Patienten Experten für ihre eigene Erkrankung werden.
Wie schätzen Sie künftige Herangehensweisen für Long COVID-Behandlungen ein?
Ich glaube, dass es wichtig sein wird, unterschiedliche Gruppen von Patienten zu differenzieren. Bei Atembeschwerden etwa kann man tatsächlich ganz gut etwas tun. Das ist schon mal eine große Hilfe.
Dann gibt es die Patienten, die schwere Verläufe hatten, lange beatmet worden sind und lange, intensiv-medizinische Behandlung hatten. Das ist eine andere Rubrik und diese Patienten brauchen eine andere Therapie. Man muss schauen: Bei welchen Patienten geht es eher um Durchblutungsveränderungen, wo eher um Autoimmunreaktionen? Ich glaube nicht, dass wir ein Medikament haben werden, was allen hilft, sondern eine bessere Differenzialdiagnostik brauchen, um zu schauen, welche Patienten was benötigen.
Und für die Menschen mit kognitiven Störungen bedeutet es, wenn die Nervenzellen in ihrer Funktion beeinträchtigt sind, brauchen wir, ähnlich wie beim Schlaganfall, neuropsychologische Therapien, um einerseits zu trainieren, und andererseits Kompensationsstrategien einzusetzen und ähnliches. Dazu können auch Empfehlungen gehören, wie der Arbeitsplatz angepasst werden kann.
Differenzierte Herangehensweisen für verschiedene Gruppen von Post-COVID-Patienten, das wird für die Zukunft sicher wichtig.
Frau Dr. Thöne-Otto, vielen Dank für das Gespräch.